Monte Grappa

Tag 6: Montag, 15. Juli 2019

Va llover, mañana – es wird regnen morgen“, meinte gestern Abend der Cubamía-Koch und fragte mich, ob ich bei meiner Entscheidung bliebe, morgen um sieben Uhr mein Frühstück haben zu wollen. Er selbst und auch die Wirtin, Ines Maria, nähmen sich frei und das Restaurant wäre daher geschlossen; Ines‘ Bruder würde aber in der Früh kommen, nur meinetwegen … ich hatte eine andere Wetterprognose als er im Kopf, biete aber mit 7 Uhr 30 einen Kompromiss. Die Wahl unter den zahlreichen Auffahrtsmöglichkeiten war schon lange vorher getroffen: Die „Normalroute“, knapp 27 km, hinauf mit Start in Romano und hinunter die steilere, ca 19 km lang, nach Semonzo. Der Respekt vor dem Berg hatte mich das geboten und gewarnt vor Übermut und Missachtung meiner körperlichen Begrenztheit.

Romano d‘Ezzelino – Monte Grappa – Semonzo – Romano

Der Himmel ist bedeckt, die Hauptstraße vor der Tür ist still – kein Vergleich zur Verkehrshölle am gestrigen Sonntag. Alles ist perfekt zum Abfahren. Um kurz vor acht Uhr spritzen ein paar Regentropfen von irgendwoher, sie irritieren aber nicht und hören auch bald auf. Nach der ersten Spitzkehre geht‘s gleich in eine 10%-Rampe hinein – ich gewöhne mich recht schnell an diese Steigung, die ich als rote Marke in meinem Kopf eingeprägt hatte. Diese Prägung stammt aus der Radtourenerfahrung: 10% gehen nur ganz kurz – das war freilich mit dem „desperate bicycle“ und vollem Gepäck. Jetzt, nach der Auffahrt zum Praderadego vor ein paar Tagen, werden Anstiege neu relativiert. Kaum scheint es etwas sanfter zu werden, schalte ich auf‘s nächste kleinere Ritzel – aber sofort wird meine Steigungswahrnehmung eines Besseren belehrt: Es ist noch immer steil und doch nicht so flach wie der Augenschein, der mich zum kräftigen Durchtreten verleiten möchte. Das wäre gar nicht klug, sagt es in mir und ich schalte wieder hinauf – eingedenk der langen Strecke, die noch vor mir liegt, und ich das Höhenprofil vorher nicht auswendig gelernt habe.

Mit der allmählichen Gewöhnung an die Steigung rührt sich der Wunsch nach Aussichten von der Höhe, die man schon erklommen hat. Das sollte aber noch dauern. Auch die mit großen Transparenten beworbenen Startplätzen für die Paragleiter liegen nicht unmittelbar am Straßenrand, bieten keinen Ausblick und lassen mich daher nicht anhalten. Ich ziehe meinen mittlerweile erworbenen Atem- und Kurbelrhythmus langsam weiter aufwärts. Von hinten spüre ich, wie mir ein anderer Rennradler näher kommt. Er kurbelt etwas heftiger, fährt an mir vorbei und lässt mich einigermaßen staunend hinter sich. Der hat zwar einige Jahre weniger drauf, aber locker 15 Kilo mehr als ich. „Wie macht der das?“ rätsle ich und zwinge mich, bei meiner Trittfrequenz zu bleiben. Die Aufschrift am Rücken seines Trikots amusiert mich – „tailwind“ – sie bleibt nach dem Überholmanöver erst eine Weile knapp vor mir, entschwindet dann allmählich. Etwas später weiter oben mache ich eine erste Energieriegelpause und staune abermals: Der „tailwind“-Radler kommt schon wieder von hinten, aber erst deutlich nach mir zu der großen Kurve, wo ich pausiere. Habe mir gleich gedacht: Typischer Fall von instinktiv agierendem Rennradler, dessen Körper sich nach dem Überhol-Sprint gerächt hat.

Wirklich imposant werden Ausblicke erst bei tornante nr. 7. Das hatten auch die österreichischen Militärs vor über hundert Jahren erkannt und Spähposten in den Fels hauen lassen. Wie das Blickfeld der Soldaten damals wirklich war, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen; die Straßenumbauten der Jahrzehnte nach der grande guerra und sonstige Aufschüttungen vor den Spähpostenplätzen haben die Aussichten der Soldaten von damals ziemlich eingeschränkt. Aber die Übersicht vom Rand der heutigen Spitzkehre dürfte jener von damals einigermaßen entsprechen.

tornante nr 7: Blick nach Südosten
tornante nr 7: Blick ins Valle Santa Felicità

Beim Blick in das tief ins Bergmassiv einschneidende Valle Santa Felicità meldet sich der Respekt vor dem Berg wieder eindringlich, denn dort ganz hinten, noch nicht einmal sichtbar, müsste sie sein, die Cima Monte Grappa. Nach weiteren 300 Höhenmetern ist die 1.000 Meter-Marke erreicht, so sagt es jedenfalls ein kleines Schild am Rand der Straße, die dann ein Stück weit auf dieser Höhe bleibend am Abhang zum Brentatal bleibt. Unten, am Austritt der Brenta aus den Alpen in die venezianische Ebene kann man Bassano del Grappa erkennen – sogar bei diesem schattenlosen, Dunst verschleierten Licht.

Blick ins Val Brenta hinaus nach Bassano del Grappa

Beim Berggasthof Camposolagna gabelt sich die Straße und zum Monte Grappa muss man ein Stück lang rechts bergab fahren. Bis zur Ponte San Lorenzo sind es ungefähr 4 km, auf denen man unterm Strich keine Höhenmeter macht. Danach steigt die Straße wieder an – noch immer im Wald und ich bleibe bei meinem mir komfortablen Tempo. Ganz langsam nähert sich von hinten eine junge Radlerin, fährt meditierend wie ich selbst in ihrem Rhythmus an mir vorbei – am Rücken schon wieder die Aufschrift „tailwind“. Nach etwa 19 Fahrkilometern erreiche ich die obere Waldgrenze. Ab jetzt ist es Radeln mit permanent wunderbaren Aus- und Weitblicken. Und zum ersten mal zeigt sich der Berg, DER Berg – völlig unspektakulär, eigentlich nur erkennbar an den scharfkantigen Konturen der militärischen Friedhofsanlage.

erster Blick auf die cima Monte Grappa
bei der Abzweigung nach Feltre: Blick nach Süden

Aber wie so oft in den Bergen schieben sich bis zum sichtbaren Gipfel noch einige Kuppen und Rücken in die Quere und der Weg hat noch etliche Kurven und Kehren und auch eine steile Rampe. An der Einmündung der Nord-Auffahrt von Feltre bzw. Caupo gibt‘s einen Blick in und auf die Wolken über die Berge des Brentatals. An der Kehre gibt der Wegweiser noch 2,4 km zur cima Grappa an. Mein Höhenmesser zeigt 1.550 m, also sind nur noch 200 Höhenmeter zu machen und es wird das Gefühl spürbar, dass ich es schaffen werde. Hinter dem Straßeneinschnitt am Horizont, da wird es dann wohl deutlich vor Augen sein, das Ziel, der Höhepunkt meines Veneto-Projekts.

bei der Abzweigung nach Feltre: die letzten Spitzkehren zum Gipfel
Blick in die Berge des Brentatales

Nach der letzten Kuppe taucht plötzlich das Rifugio Bassano auf. Am Wegrand macht mich ein Gedenkstein noch anhalten und einen Blick den Abhang hinunter werfen auf die übermenschlich große Skulptur, die am Ausgang des Weges steht, der einem überdimensional tiefen Schützengraben gleicht: das monumento al partigiano e alla resistenza.

Wegweiser zum monumento al partigiano; Rifugio Bassano hinten
monumento al partigiano

Ein weiteres Beispiel einer Gedenkstätte, die die Formensprache der üblichen Kriegerdenkmäler diametral kontrastiert, insbesondere jenes unter Mussolini zum Gedenken an die über 20.000 getöteten Soldaten auf dem Gipfel des Monte Grappa errichteten ossario.

Die letzten Straßenmeter führen vorbei an der Kaserne „Milano“ und eine kurze Rampe hinauf zum Ziel. Mit langem kräftigen Applaus empfangen mich dort die Radler und Radlerinnen mit den „tailwind“-Trikots. So freuen wir uns gemeinsam. Ein paar von ihnen kommen noch nach mir den Berg herauf und erhalten den gleichen Willkommensgruß.

schon mit wärmender Windweste, Helmkapperl und Ärmlingen; hinten Bruno von „tailwind“

Die Blicke von der letzten Kurve oben um das Rifugio Bassano sind als lohnende Augenweide nur ein Teil der Gefühle, die ich mir heute mit dieser Auffahrt beschert habe.

Monte Grappa: Blick vom Rifugio nach Norden
Monte Grappa: Blick nach Nordosten, Belluneser Dolomiten
Monte Grappa: Blick vom Rifugio Bassano Richtung Osten, Piave im Hintergrund

Dieses mal gibt es wirklich den Gipfelkaffee und einen Apfelstrudel im Berggasthaus. Die „tailwind“-Trikots sind auch alle herinnen, eine von ihnen lädt mich ein, doch an ihrem Tisch Platz zu nehmen. So erfahre ich, was es mit den Trikots auf sich hat:

tailwind DVT 2019 group (irgendwo in der Toscana)

Tailwind Tours ist ein Reiseveranstalter in Australien und organisiert luxuriöse Reisen für Rennradbegeisterte. Diese Gruppe ist im Rahmen ihrer „dolce vita tour 2019“ von ihrem italienischen Rennradführer, Bruno aus Mussolente, heute auf den Monte Grappa hinauf geleitet worden. Mit ihm gelingt auch noch ein kleines Geplauder unter ciclisti-Freunden, dieses mal auf italienisch.

Den Fußweg hinauf zum ossario, das den Gipfel dieses blutgetränkten Berges mit militärästhetischer Gewalt niederdrückt, erspare ich mir gerne. Die tailwind-group (siehe posting vom 15. Juli 2019) wird denselben Weg hinunter nach Semonzo nehmen und hat nichts dagegen, dass ich mich ihnen anschließe – reihe mich als letzter hinter Benedetta ein, die so wie Valentina – ihr Mann fährt mit einer Beinprothese auf dem Rennrad die ganze Tour – im nachfahrenden Begleitvan zum Team gehört.

Monte Grappa: Blick auf den Beginn der Abfahrt hinunter nach Semonzo

Die Abfahrt wird – ab der oberen Waldgrenze – ein unvergleichliches Training für Serpentinen-Fahren. Benedetta vor mir schneidet fast jede dieser steilen Kehren falsch an … unten in Semonzo angelangt bedankt sie sich erleichtert über mich als Begleitenden. Alle schütteln ihre vom vielen Bremsen angespannten Hände und Arme und manche Gesichter sind sogar froh, heil angekommen zu sein. Ich nehme die Querfahrt hinüber zum Cubamía in Romano d‘Ezzelino. Ines‘ Bruder zapft mir ein birra FORST.

Leider endet dieser wunderbare Tag nicht mit einem adäquaten Abendessen. Nach einer mehr als einstündigen Suche nach einem offenen Restaurant rette ich mich hungernd in einen Pizza-Service-Betrieb an einer Ausfallstraße von Romano. Aber das Glücksgefühl von der Monte Grappa Auffahrt wird dadurch nicht getrübt.

Statistik: Romano d‘Ezzelino – Monte Grappa – Semonzo – Romano
45 km, 1.582 Höhenmeter bergauf, 3 Stunden 42 Minuten Nettofahrzeit.

Autor: pemockl

desperate bicycle

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