Tag 2: Donnerstag, 11. Juli 2019
Geplant war, von Lago zuerst auf den Passo San Boldo und hinunter nach Trichiana ins Piavetal und von dort die Nordauffahrt zum Passo Praderadego hinauf und zurück über Valmareno und Cison wieder nach Lago zu fahren.
Aus dem Plan wurde aber nichts. Das Wetter hatte am Passo San Boldo überzeugend gedroht. Und ein wenig Reisemüdigkeit vom gestrigen Tag hat auch etwas nachgeholfen …
Lago – Passo San Boldo – Lago
Der „giro d‘Italia“ führte heuer am 31. Mai seine 19. Etappe über den San Boldo – Ermanno hat mir gesagt, dass der Tourismusverband der Prosecco-Region Unsummen dem giro-Veranstalter dafür gezahlt hatte. In Tovena, am Hauptplatz, bezeugt eine stilisierte Radfahrerfigur noch Monate nach der Durchfahrt dieses Ereignis. Aber nicht nur dort sind Rosa-Reste, wie noch zu sehen sein wird.
Ich hätte zwar gerne zugeschaut, wie die Rennradler da „hinaufgeflogen“ sind, doch ist das nicht das vorrangige Interesse, das ich in den letzten Jahren für diese Straße entwickelt hatte. Waren die Bilder, die in Büchern und im internet nahezu unendlich oft zu bestaunen sind, schon beeindruckend genug, so sind es das Hinaufradeln, die Blicke auf die Tunnelkehren und auch das Lesen der Entstehungsgeschichte am Ort selbst noch viel mehr.
Vom gesamten Höhenunterschied zwischen Tovena/Hauptplatz (ca. 260 m) und der Passhöhe (706 m) werden auf den ersten 5 km rund 360 Höhenmeter auf Rampen und einem Dutzend Spitzkehren bis zum Beginn der engen Schlucht San Uboldo ohne Anstrengung hinaufgeradelt. Bis zur elften Kehre (von unten gezählt) steigt das Rätselraten darüber, wie es denn bei der allmählich näher kommenden Felswand überhaupt weitergehen könne. Dann wird plötzlich der Blick frei auf die in die Schlucht hineingezwängten Rampen und Eingangsportale der Kehrentunnel.
In manchen Kehren sind Hinweistafeln mit Fotos und Erklärungen zur Baugeschichte dieses letzten Straßenstückes der „strada dei cento giorni“ – so genannt, weil es in 100 Tagen errichtet wurde. Eine ausführliche Darstellung verfasste der 1918 für den Bau verantwortliche Kommandant der Bautruppe Nikolaus Waldmann im Jahre 1933 in den „Militärwissenschaftlichen Mitteilungen“.
Im ersten Bild sieht man unten die Ein- bzw. Ausfahrt – vom Tal kommend linksseitig – zum ersten Kehrentunnel, tornante nr. 6, weil die Nummerierung oben am Pass beginnt. In der unten wiedergegebenen „Skizze 3 – Grundriß der Schlucht von S. Ubaldo“ des Bauleiters Nikolaus Waldmann ist das der Kehrentunnel Nr. I. Die im Foto ersichtliche Einfahrt zur tornante nr. 4 ist in der Skizze der Kehrentunnel Nr. III. Links im Vordergrund des Fotos erkennt man die obere Ausfahrt der tornante nr.5, das ist der Kehrentunnel Nr. II auf der rechten Seite der Schlucht.
Die Ein- und Ausfahrt zum Kehrentunnel Nr. IV der Skizze 3 sieht man auf dem nächsten Foto: die beiden obersten Tunnelportale gehören zu der heute als tornante nr. 2 bezeichneten Kehre.
Zu erkennen ist auch die Ampelregelung. Sicherheitshalber habe ich beim Hinauffahren immer eine Gegenrichtungsphase auf der jeweiligen Rampe im Freien abgewartet und nach oben geschaut, ob kein Auto gerade herunterfährt. Eine Begegnung in irgendeiner der engen, einspurigen Tunnelkurven war mir eine beängstigende Vorstellung. Es kam glücklicherweise nie dazu, auch nicht im letzten Tunnel der Auffahrt, dem langen Kehrentunnel Nr. V in der Skizze.
Oben fahre ich natürlich nicht den „Durchstich“, sondern die schmale steile Rampe zur ehemals „natürlichen“ Passhöhe hinauf, vorbei an der osteria „La Muda“ – sie war eh nicht geöffnet – und hinüber zur alten, kleinen Bergkapelle. Sie hatte gewiss ziemlich leiden müssen unter dem giro d‘Italia-Lärm Ende Mai 2019.
Heute ist es still, in und um die chiesetta alpina herum. Ein altes Ehepaar setzt bedächtig Schritt vor Schritt von der Brücke über den Durchstich kommend. Sie nehmen sich Zeit für eine Andacht in der Kapelle. Ich studiere noch den Himmel und die Wolken und entscheide mich gegen die geplante Runde und für die direkte Rückkehr nach Lago.
Statistik: Lago – Passo San Boldo – Lago
19 km, 451 Höhenmeter bergauf, 1 Stunde 14 Minuten Nettofahrzeit.