Abfahrt: Sprint nach Treviso

Tag 8: Mittwoch, 17. Juli 2019

Einen einigermaßen direkten Weg von Romano nach Treviso auf möglichst wenig befahrenen Landstraßen zu finden, war das Ziel. Aber auch ein sehr ausführliches Landkartenstudium hat nichts genützt: Die großflächige Landwirtschaft samt Bewässerungskanälen hat keine für diese Zielkriterien brauchbaren, durchgehenden Güterwege anzubieten. Fühlte ich mich auf den ersten 30 Kilometern – bis kurz nach Fanzolo – schon reichlich gehetzt im Kampf um meinen Fahrbahnanteil, so wurde die Fahrt ab der Einmündung auf die schnurgerade SP 102 wie ein Spießrutenlauf.

Die nur zweispurige Landstraße wird in beiden Richtungen von PKW, gewerblichen Kleinlastwägen aber auch von großen „Brummern“ anscheinend deswegen bevorzugt genutzt, weil sie wie eine Luftlinie elendiglich lang durch die pianura zieht und über weite Strecken alle Ortschaften links oder rechts liegen lässt. Da sie keinen Pannenstreifen, ja nicht einmal ein befahrbares Bankett neben der Fahrbahnmarkierung hat, sondern das Asphaltband in seiner vollen Breite nur in zwei Fahrbahnen für den nahezu kolonnenartig rasenden motorisierten Verkehr teilt, wächst sich das Radeln zu einem extrem stressigen Sprint aus. Ich muss etliche Male meine Fahrt unterbrechen, nur um meinen Nerven eine Erholung und Entspannung zu gewähren. Auch das ist nur dort möglich, wo gerade ein Feldweg oder eine Einfahrt zu einem landwirtschaftlichen Betrieb abzweigen. Das neuerliche Einreihen in den Fließverkehr wage ich nur, wenn in beiden Richtungen gleichzeitig überschaubar lange Lücken in den Kolonnen abzusehen sind. Es war eine 12 Kilometer lange Fahrt in einer Verkehrshölle, wie ich sie noch nie gekannt habe.

Treviso: pasticcería e gelatería Camelia

In Treviso suche ich nur noch eine möglichst ruhige Gasse mit einer schattigen Cafeteria. Die Stadt hat sich eigentlich viel mehr Aufmerksamkeit verdient und ist gewiss noch einige Besuche wert; nicht nur die neobiedermeierlich anmutende pasticcería e gelatería „Camelia“ auf Nummer 30 der Via Palestro in der Altstadt von Treviso.

Das beste Pistazieneis, das ich je in meinem Leben genossen habe, und köstliche cupcakes … mein Lohn für das Überstehen des abschließenden Höllenritts im Veneto.

pasticcería e gelatería Camelia – aus dem Sortiment


Statistik: Romano d‘Ezzelino – Mussolente – Riese del Pio X – Treviso
54 km, 69 Höhenmeter bergauf, 2 Stunden 11 Minuten Nettofahrzeit.


spazieren in Bassano del Grappa

Tag 7: Dienstag 16. Juli 2019

Das „Veneto 19 Projekt“ hatte ich – zumindest im Kern – gestern mit der Monte Grappa Tour eigentlich erfolgreich beendet. Wären da nicht die gleichsam verpflichtende Vorsorge zur Reservierung des Fahrradtransports im Zug und die Möglichkeit eines Schlechtwettereinbruchs gewesen, stünde einer Rückreise nach Wien heute nichts im Wege. Die ist aber erst für Mittwoch gebucht. Nach anderen Auffahrten zum Monte Grappa oder großen Runden um das Bergmassiv ist mir heute nicht sonderlich zumute. Die schon in der Früh beginnende Hitze motiviert auch eher zu spazieren in Bassano del Grappa.

Bis zum centro storico von Bassano sind es von Romano nur 5 Kilometer. Schon am Rand der vor Hochwasser gesichert auf einem Hügel gewachsenen Altstadt formieren der Einschnitt des Brentatales in den Alpenrand und das Monte Grappa Massiv eine imposante Kulisse.

Bassano del Grappa – Blick ins Brentatal
Bassano del Grappa – Blick zum Monte Grappa Massiv

Mit den Augen suche ich die Spitzkehren in der unter den Rennradfreaks als „normal“ oder „comfort“ bezeichneten Auffahrt von Romano und die mir erinnerliche 1.000 m Marke, wo ein kleines etwas abgeflachtes Stück oberhalb des Brentatales beginnt. Schwieriger fällt es mir, den Gipfel von hier auszumachen – ich vermeine dennoch, ihn gefunden zu haben.

Durch die porta delle grazie spaziere ich in die Altstadt hinein, komme nach ein paar Schritten zu ersten piazza: Leider ein optischer Schock, denn der kleine dreieckige Platz ist voll möbliert und mit Fahrzeugen so verstellt, dass man gar kein Platzraumerlebnis haben kann. Auch der ums Eck anschließende Platz vor dem castello ist zu einem Abstellplatz für Autos umfunktioniert. Im Hof des Castello Ezzelino selbst ist es auffallend still. Ein paar Schilder deuten auf Künstlerstudios hin – zu Mittag machen die Kulturschaffenden natürlich auch Pause … Die Pflasterung mit runden Flusssteinen macht das Gehen zu einem hochgradigen Fußverstauchungsrisiko. Mit den Fahrradschuhen noch mehr.

Es lohnt gewiss, viel länger und vor allem viel aufmerksamer durch das alte Städtchen zu schlendern als ich es heute mache. Die historische Vorbildung, um die Stadt wissender zu sehen, fällt leider aus, weil das museo civico geschlossen ist. Was bleibt, ist das ästhetische Vergnügen, das sich beim Besuch zahlreicher italienischer Städte mit ihren Plätzen und den Übergängen dazwischen in mir immer wieder einstellt.

Bassano del Grappa: Piazza Garibaldi – dahinter der torre civico
Bassano del Grappa: Piazza Garibaldi mit Brunnen
Bassano del Grappa: Übergang zur Piazza Libertà
Bassano del Grappa: Piazza Libertà – Loggia del Municipio und Zwischengebäude zur Piazza Garibaldi
Bassano del Grappa: Piazza Libertà
Bassano del Grappa: Piazza Libertà mit Statue des San Bassiano – Übergang zum Piazzotto Montevecchio

In jenem Eck der Piazza Libertà, in dem die Statue des San Bassiano auf ihrem Podest plaziert ist, kommt man hindurch zum Piazzotto Montevecchio, der – verglichen mit den beiden großen Piazze Garibaldi und Libertà – wie eine Ruheinsel wirkt. Ich sehe im Schaufenster eines Bäckerladens, der sich mit Tischen, Stühlen und Schatten spendenden Sonnenschirmen in den Platz hinein ausbreitet, köstlich anmutende pannini … unwiderstehlich mit einem Glas prosecco

Bassano del Grappa: Piazzotto Montevecchio

Danach muss noch der Brenta ein Kurzbesuch abgestattet werden und der Fluss unbedingt auf dem berühmten Ponte degli Alpini überquert werden. Die Brücke wird zur Zeit einer Generalsanierung unterzogen.

Bassano del Grappa: Brenta mit Ponte degli Alpini
Bassano del Grappa: Mittagspause an der Brenta
Brenta bei Campolongo




Der Blick flussaufwärts ins Tal macht doch ein wenig neugierig. Ich fahre also noch ein paar Kilometer hinauf, überquere auf einer Staumauer die Brenta wieder auf ihr linkes Ufer … und radle über Piove del Grappa nach Romano d‘Ezzelino zurück.


Der Chefkoch im Cubamía bereitet mir zum Abschied ein wunderbares Abendessen.


Statistik: Romano d‘Ezzelino – Bassano del Grappa – Solagna – Romano
20 km, 280 Höhenmeter bergauf, 58 Minuten Nettofahrzeit.

Monte Grappa

Tag 6: Montag, 15. Juli 2019

Va llover, mañana – es wird regnen morgen“, meinte gestern Abend der Cubamía-Koch und fragte mich, ob ich bei meiner Entscheidung bliebe, morgen um sieben Uhr mein Frühstück haben zu wollen. Er selbst und auch die Wirtin, Ines Maria, nähmen sich frei und das Restaurant wäre daher geschlossen; Ines‘ Bruder würde aber in der Früh kommen, nur meinetwegen … ich hatte eine andere Wetterprognose als er im Kopf, biete aber mit 7 Uhr 30 einen Kompromiss. Die Wahl unter den zahlreichen Auffahrtsmöglichkeiten war schon lange vorher getroffen: Die „Normalroute“, knapp 27 km, hinauf mit Start in Romano und hinunter die steilere, ca 19 km lang, nach Semonzo. Der Respekt vor dem Berg hatte mich das geboten und gewarnt vor Übermut und Missachtung meiner körperlichen Begrenztheit.

Romano d‘Ezzelino – Monte Grappa – Semonzo – Romano

Der Himmel ist bedeckt, die Hauptstraße vor der Tür ist still – kein Vergleich zur Verkehrshölle am gestrigen Sonntag. Alles ist perfekt zum Abfahren. Um kurz vor acht Uhr spritzen ein paar Regentropfen von irgendwoher, sie irritieren aber nicht und hören auch bald auf. Nach der ersten Spitzkehre geht‘s gleich in eine 10%-Rampe hinein – ich gewöhne mich recht schnell an diese Steigung, die ich als rote Marke in meinem Kopf eingeprägt hatte. Diese Prägung stammt aus der Radtourenerfahrung: 10% gehen nur ganz kurz – das war freilich mit dem „desperate bicycle“ und vollem Gepäck. Jetzt, nach der Auffahrt zum Praderadego vor ein paar Tagen, werden Anstiege neu relativiert. Kaum scheint es etwas sanfter zu werden, schalte ich auf‘s nächste kleinere Ritzel – aber sofort wird meine Steigungswahrnehmung eines Besseren belehrt: Es ist noch immer steil und doch nicht so flach wie der Augenschein, der mich zum kräftigen Durchtreten verleiten möchte. Das wäre gar nicht klug, sagt es in mir und ich schalte wieder hinauf – eingedenk der langen Strecke, die noch vor mir liegt, und ich das Höhenprofil vorher nicht auswendig gelernt habe.

Mit der allmählichen Gewöhnung an die Steigung rührt sich der Wunsch nach Aussichten von der Höhe, die man schon erklommen hat. Das sollte aber noch dauern. Auch die mit großen Transparenten beworbenen Startplätzen für die Paragleiter liegen nicht unmittelbar am Straßenrand, bieten keinen Ausblick und lassen mich daher nicht anhalten. Ich ziehe meinen mittlerweile erworbenen Atem- und Kurbelrhythmus langsam weiter aufwärts. Von hinten spüre ich, wie mir ein anderer Rennradler näher kommt. Er kurbelt etwas heftiger, fährt an mir vorbei und lässt mich einigermaßen staunend hinter sich. Der hat zwar einige Jahre weniger drauf, aber locker 15 Kilo mehr als ich. „Wie macht der das?“ rätsle ich und zwinge mich, bei meiner Trittfrequenz zu bleiben. Die Aufschrift am Rücken seines Trikots amusiert mich – „tailwind“ – sie bleibt nach dem Überholmanöver erst eine Weile knapp vor mir, entschwindet dann allmählich. Etwas später weiter oben mache ich eine erste Energieriegelpause und staune abermals: Der „tailwind“-Radler kommt schon wieder von hinten, aber erst deutlich nach mir zu der großen Kurve, wo ich pausiere. Habe mir gleich gedacht: Typischer Fall von instinktiv agierendem Rennradler, dessen Körper sich nach dem Überhol-Sprint gerächt hat.

Wirklich imposant werden Ausblicke erst bei tornante nr. 7. Das hatten auch die österreichischen Militärs vor über hundert Jahren erkannt und Spähposten in den Fels hauen lassen. Wie das Blickfeld der Soldaten damals wirklich war, kann ich heute nicht mehr nachvollziehen; die Straßenumbauten der Jahrzehnte nach der grande guerra und sonstige Aufschüttungen vor den Spähpostenplätzen haben die Aussichten der Soldaten von damals ziemlich eingeschränkt. Aber die Übersicht vom Rand der heutigen Spitzkehre dürfte jener von damals einigermaßen entsprechen.

tornante nr 7: Blick nach Südosten
tornante nr 7: Blick ins Valle Santa Felicità

Beim Blick in das tief ins Bergmassiv einschneidende Valle Santa Felicità meldet sich der Respekt vor dem Berg wieder eindringlich, denn dort ganz hinten, noch nicht einmal sichtbar, müsste sie sein, die Cima Monte Grappa. Nach weiteren 300 Höhenmetern ist die 1.000 Meter-Marke erreicht, so sagt es jedenfalls ein kleines Schild am Rand der Straße, die dann ein Stück weit auf dieser Höhe bleibend am Abhang zum Brentatal bleibt. Unten, am Austritt der Brenta aus den Alpen in die venezianische Ebene kann man Bassano del Grappa erkennen – sogar bei diesem schattenlosen, Dunst verschleierten Licht.

Blick ins Val Brenta hinaus nach Bassano del Grappa

Beim Berggasthof Camposolagna gabelt sich die Straße und zum Monte Grappa muss man ein Stück lang rechts bergab fahren. Bis zur Ponte San Lorenzo sind es ungefähr 4 km, auf denen man unterm Strich keine Höhenmeter macht. Danach steigt die Straße wieder an – noch immer im Wald und ich bleibe bei meinem mir komfortablen Tempo. Ganz langsam nähert sich von hinten eine junge Radlerin, fährt meditierend wie ich selbst in ihrem Rhythmus an mir vorbei – am Rücken schon wieder die Aufschrift „tailwind“. Nach etwa 19 Fahrkilometern erreiche ich die obere Waldgrenze. Ab jetzt ist es Radeln mit permanent wunderbaren Aus- und Weitblicken. Und zum ersten mal zeigt sich der Berg, DER Berg – völlig unspektakulär, eigentlich nur erkennbar an den scharfkantigen Konturen der militärischen Friedhofsanlage.

erster Blick auf die cima Monte Grappa
bei der Abzweigung nach Feltre: Blick nach Süden

Aber wie so oft in den Bergen schieben sich bis zum sichtbaren Gipfel noch einige Kuppen und Rücken in die Quere und der Weg hat noch etliche Kurven und Kehren und auch eine steile Rampe. An der Einmündung der Nord-Auffahrt von Feltre bzw. Caupo gibt‘s einen Blick in und auf die Wolken über die Berge des Brentatals. An der Kehre gibt der Wegweiser noch 2,4 km zur cima Grappa an. Mein Höhenmesser zeigt 1.550 m, also sind nur noch 200 Höhenmeter zu machen und es wird das Gefühl spürbar, dass ich es schaffen werde. Hinter dem Straßeneinschnitt am Horizont, da wird es dann wohl deutlich vor Augen sein, das Ziel, der Höhepunkt meines Veneto-Projekts.

bei der Abzweigung nach Feltre: die letzten Spitzkehren zum Gipfel
Blick in die Berge des Brentatales

Nach der letzten Kuppe taucht plötzlich das Rifugio Bassano auf. Am Wegrand macht mich ein Gedenkstein noch anhalten und einen Blick den Abhang hinunter werfen auf die übermenschlich große Skulptur, die am Ausgang des Weges steht, der einem überdimensional tiefen Schützengraben gleicht: das monumento al partigiano e alla resistenza.

Wegweiser zum monumento al partigiano; Rifugio Bassano hinten
monumento al partigiano

Ein weiteres Beispiel einer Gedenkstätte, die die Formensprache der üblichen Kriegerdenkmäler diametral kontrastiert, insbesondere jenes unter Mussolini zum Gedenken an die über 20.000 getöteten Soldaten auf dem Gipfel des Monte Grappa errichteten ossario.

Die letzten Straßenmeter führen vorbei an der Kaserne „Milano“ und eine kurze Rampe hinauf zum Ziel. Mit langem kräftigen Applaus empfangen mich dort die Radler und Radlerinnen mit den „tailwind“-Trikots. So freuen wir uns gemeinsam. Ein paar von ihnen kommen noch nach mir den Berg herauf und erhalten den gleichen Willkommensgruß.

schon mit wärmender Windweste, Helmkapperl und Ärmlingen; hinten Bruno von „tailwind“

Die Blicke von der letzten Kurve oben um das Rifugio Bassano sind als lohnende Augenweide nur ein Teil der Gefühle, die ich mir heute mit dieser Auffahrt beschert habe.

Monte Grappa: Blick vom Rifugio nach Norden
Monte Grappa: Blick nach Nordosten, Belluneser Dolomiten
Monte Grappa: Blick vom Rifugio Bassano Richtung Osten, Piave im Hintergrund

Dieses mal gibt es wirklich den Gipfelkaffee und einen Apfelstrudel im Berggasthaus. Die „tailwind“-Trikots sind auch alle herinnen, eine von ihnen lädt mich ein, doch an ihrem Tisch Platz zu nehmen. So erfahre ich, was es mit den Trikots auf sich hat:

tailwind DVT 2019 group (irgendwo in der Toscana)

Tailwind Tours ist ein Reiseveranstalter in Australien und organisiert luxuriöse Reisen für Rennradbegeisterte. Diese Gruppe ist im Rahmen ihrer „dolce vita tour 2019“ von ihrem italienischen Rennradführer, Bruno aus Mussolente, heute auf den Monte Grappa hinauf geleitet worden. Mit ihm gelingt auch noch ein kleines Geplauder unter ciclisti-Freunden, dieses mal auf italienisch.

Den Fußweg hinauf zum ossario, das den Gipfel dieses blutgetränkten Berges mit militärästhetischer Gewalt niederdrückt, erspare ich mir gerne. Die tailwind-group (siehe posting vom 15. Juli 2019) wird denselben Weg hinunter nach Semonzo nehmen und hat nichts dagegen, dass ich mich ihnen anschließe – reihe mich als letzter hinter Benedetta ein, die so wie Valentina – ihr Mann fährt mit einer Beinprothese auf dem Rennrad die ganze Tour – im nachfahrenden Begleitvan zum Team gehört.

Monte Grappa: Blick auf den Beginn der Abfahrt hinunter nach Semonzo

Die Abfahrt wird – ab der oberen Waldgrenze – ein unvergleichliches Training für Serpentinen-Fahren. Benedetta vor mir schneidet fast jede dieser steilen Kehren falsch an … unten in Semonzo angelangt bedankt sie sich erleichtert über mich als Begleitenden. Alle schütteln ihre vom vielen Bremsen angespannten Hände und Arme und manche Gesichter sind sogar froh, heil angekommen zu sein. Ich nehme die Querfahrt hinüber zum Cubamía in Romano d‘Ezzelino. Ines‘ Bruder zapft mir ein birra FORST.

Leider endet dieser wunderbare Tag nicht mit einem adäquaten Abendessen. Nach einer mehr als einstündigen Suche nach einem offenen Restaurant rette ich mich hungernd in einen Pizza-Service-Betrieb an einer Ausfallstraße von Romano. Aber das Glücksgefühl von der Monte Grappa Auffahrt wird dadurch nicht getrübt.

Statistik: Romano d‘Ezzelino – Monte Grappa – Semonzo – Romano
45 km, 1.582 Höhenmeter bergauf, 3 Stunden 42 Minuten Nettofahrzeit.

radlos in Romano d’Ezzelino

Tag 5: Sonntag, 14. Juli 2019

Schon während des Frühstücks nimmt der Verkehr auf der Via Meneghetti, der Auffahrtsstraße zum Monte Grappa, sukzessive zu – Motorradgruppen aller Kaliber und PKW verdichten sich zu einer nicht abreißen wollenden Kolonne; zahllose Grüppchen und Gruppen von Rennradfahrern und -fahrerinnen mitten drin. Mir wird schummrig und meine Vorstellung von einer beschaulichen, stillen, meditativen Bergfahrt schwindet dahin. Die Bemerkungen des Kochs von Cubamía, dass das in den Sommerferien eben so sei, lassen mich einen Abbruch meines Veneto-Projekts erwägen: 27 Kilometer lang in Auspuff- und Lärmwolken hinauf pedalieren, in permanenter Angst, von einem Motorradfahrer in einer Kurve umgerissen zu werden, erzwingen, dass meine Erstbefahrung des Monte Grappa nicht stattfinden wird, keinesfalls heute. Ich beschließe einen Radlostag einzulegen, packe den Fotoapparat und den Orts- und Umgebungsplan von Romano ein, ziehe die Sandalen an und schütze meine Glatze mit dem Radlerkopftuch vor drohenden Sonnenverbrennungen.

Das zu-Fuß-Gehen Richtung Ortsmitte auf der Via Meneghetti und der Via Marchi – beide sind Teile der Auffahrtsstraße zum Monte Grappa – ist nicht minder gefährlich. Die Einheimischen scheinen das zu wissen und so bin ich der einzige, der sich a piedi um diese Tageszeit auf diese Straße wagt. Es gibt aber keinen anderen Weg, um zu jenem rätselhaften Ziegelturm zu gelangen, den ich schon von meinem Zimmerfenster aus gesichtet hatte. Es ist ein still gelegter Ziegelbrennofen, um den herum ein Ausstellungsraum gebaut wurde. Der ist leider heute geschlossen.

Romano d’Ezzelino: Gedenkstücke am Kirchenplatz

Ein paar Schritte weiter versammeln sich, auf der Piazzale Chiesa, dem Kirchenplatzl, die üblichen Gedenkstücke: die in Stein gemeißelten Namen der Gefallenen der beiden Kriege, die Marienstatue und eine Feldhaubitze, gerichtet auf die Abhänge des Monte Grappa Massivs.

collini bei Romano d’Ezzelino
torre Ezzelina in Romano

Der nächste neugierig machende Turm ist die Torre Ezzelina auf dem Col Bastia. Er ist der Rest des Ezzelino-Schlosses auf einem der unzähligen colli, die auch hier am Fuße des Grappa-Massivs für optische Abwechslung sorgen

Der kleine Hügel beherbergt auch einen Friedhof, eine Serie von aus Wurzel- und Lianenwerk gebildeten Tierskulpturen, die an einem Spazier-Rundkurs aufgereiht sind, und – was die Bürger des Städtchens gewiss stolz macht – auch einen Gedenkstein zu Ehren von Dante Alighieri samt einer Tafel mit einem Zitat aus der Divina Commedia, Paradiso, IX, vv. 25-30, das auf eben diesen Hügel verweist.

Dante Alighieri Gedenkstein in Romano d’Ezzelino

Ich hoffe, von dieser kleinen Anhöhe aus einen Blick auf mein Objekt der Begierde, den Gipfel des Monte Grappa, werfen zu können – das ist aber nicht möglich. Die davor liegenden Ausläufer des steilen Massivs sind zu hoch. Aber deren Abhänge sind schon Respekt einflößend genug:

Blick ins Val Santa Felicità vom Schlosshügel in Romano
im Valle Santa Felicità

Links und rechts des Ausgangs des Valle Santa Felicità führen die beiden Straßen an den Abhängen des Grappa-Massivs in zahlreichen Serpentinen nach oben. Im Tal selbst verlaufen diverse Wanderwege zuerst in der Ebene zu einer Kapelle auf einer weiten Wiese, die ganz offensichtlich ein beliebtes Ziel für Spaziergänge ist; die Bergwanderer gehen jedoch weiter in die Schlucht hinein und dann irgendwie die steilen Talwände nach oben. Vom nahe der Wiese gelegenen Wirtshaus dröhnt Schlagermusiklärm, die Sonnenschirme sind von „Paulanerbräu“ gesponsert, der Parkplatz reichlich mit Motorrädern bestückt … ich gehe wieder talauswärts Richtung Cubamía.

Bei der nächsten Abzweigung biege ich zur ersten Spitzkehre der Grappa-Auffahrt ab. Noch immer dröhnen Kolonnen bergwärts. Wie still war es doch drüben bei der Torre Ezzelina

Überstellungsetappe

Tag 4: Samstag, 13. Juli 2019

Ermanno, Hausherr von La Palanca in Lago

Ermanno überlässt mir für eine Weile seinen Computer, damit ich in Romano mein nächstes Quartier für mein Veneto-19-Projekt buchen und die Route dorthin adaptieren kann. Alles klappt perfekt. Der Abschied von ihm war ungewöhnlich herzlich – ich glaube, ich habe ihm in sein sonst recht einsames Pensionistenleben auch ein bisschen freudige Abwechslung gebracht.

Lago – strada del prosecco – Valdobbiadene – Romano d‘Ezzelino

Mich erinnernd an meine Fehleinschätzung der strada del prosecco bei meiner Friaul-2013-Tour kann mich der Anstieg hinauf nach Combai heute nicht ärgern. Erinnerlich sind mir auch die vielen schönen Aussichten auf und über diese Hügellandschaft, bevor man hinunter nach Valdobbiadene saust.

strada del prosecco: Blick zurück nach Combai
strada del prosecco: Blick südwestwärts Richtung Piavetal
Valdobbiadene: Caffè Roma (2013)

Das Caffè Roma am Hauptplatz von Valdobbiadene ist fast ein nostalgischer Pflichtbesuch – auch vor sechs Jahren musterten mich die jungen Leute an den benachbarten Tischchen auf der Terrasse zum Platz. Heute waren aber mehr Radler als damals unterwegs.

Valdobbiadene Hauptplatz

Wegen einer neuen Einbahnregelung will ich mich nicht von der vorab geplanten Ausfahrt aus dem Ortszentrum abbringen lassen und sause zielstrebig zur Piavebrücke hinunter. Ein kurzer, leicht sehnsüchtiger Blick auf der Brücke flussaufwärts – dort weiter oben, hinter dem Berg liegt Feltre, dieses altstädtische Kleinod in liebevoller Erinnerung.

auf der Piave-Brücke: Blick nach Norden

Nach der Piavequerung habe ich nur mehr den Zielort meiner Transferetappe ins Basiscamp Nr. 2 im Kopf und will auf kürzestem Wege dorthin fahren. Der starke Wochenendeverkehr hätte freilich eine angenehmere Routenwahl nahegelegt als diese, fast alle kleinen Ortschaften vermeidende „direttissima“ SP20. Als bei Crespano jedoch die Straße zu einer Teststrecke für Motocross-Maschinen und sonstige Motorräder umfunktioniert wird, wird mir der Verkehrsstress zu heftig und ich will runter. Die nächstbeste Abzweigung bietet sich nach ein paar Kilometern kurz vor Semonzo an. Ich verlasse die Hauptstraße und nehme die am Hang oben liegende „Dörferlinie“ direkt nach Romano d‘Ezzelino. Nachträglich betrachtet, hätte ich von vorne herein diese näher am Alpenfuß verlaufenden Verbindungswege wählen sollen; das hätte mir viel Ärger und nervliche Anstrengung erspart und darüber hinaus gewiss eine ganze Menge schöner Ausblicke und Ortsdurchfahrten beschert. Das nächste mal und auch für vergleichbare Situationen möchte ich mir‘s merken.

Nach rund 2 ½ Stunden Fahrzeit erreiche ich das Hotel „Cubamía“, mein Basiscamp für die nächsten Tage. Inés María Lopéz Hernández, die Gastwirtin und Autorin des gleichnamigen Romans „Cubamía“, empfängt mich sehr freundlich, so beginnen vier Tage in einem verwirrenden italo-spagnolo-Kauderwelsch. Ich freue mich, endlich am Fuße des Monte Grappa angekommen zu sein. Das erste birra FORST in der Pergola an der Auffahrtsstraße zum Monte Grappa schmeckt besonders gut. Der prosecco später nicht minder.

Statistik: Lago – strada del prosecco – Valdobbiadene – Romano d‘Ezzelino
50 km, 733 Höhenmeter bergauf, 2 Stunden 30 Minuten Nettofahrzeit.

Passo Praderadego

Tag 3: Freitag, 12. Juli 2019

Ermanno erzählt mir, wie die charakteristische Hügellandschaft – die colli – allmählich durch eine ungezügelte Ausweitung des Weinbaus ihre einzigartige Mischkultur verlieren würde. Diese Hügelketten, die das südliche Gegenstück zu den steilen Abhängen der Belluneser Voralpen und damit das Soligotal überhaupt bilden, wollte ich sowieso hinauffahren. Das sollte mir auch den Blick in die gegenüberliegenden Seitentäler bescheren, durch die meine beiden Passtraßen (San Boldo und Praderadego) hinaufführen. Die Hauptstraße nach Cison in der Talebene – in der vallata – ist wegen des hohen Verkehrsaufkommens zu keiner Tageszeit ein Vergnügen.

Lago – colli – Cison – Passo Praderadego – Lago

Um halbneun Uhr morgens rolle ich los, hinüber auf die andere Talseite. Eine gerade Schrägfahrt führt zur ersten Hügelkette hinauf. Noch bevor man nach Tarzo hineinkommt, zweigt bei der ersten Kuppe rechts die Provinzstraße, SP152, mit dem vielversprechenden Namen „via bellavista“ ab. Sie ist Teil der „strada provinciale dei colli settentrionale“, die mehr oder weniger auf dem Kamm dieser ganzen Hügelkette zwischen Vittorio Veneto im Osten und dem Piave im Westen bei Vidor verläuft. Für mich wird sie zur vecchia strada del prosecco, eine typische Weinstraße alten Musters. Die Versprechungen auf belleviste bleiben aber leider fast gänzlich aus – jedenfalls solche auf die Südabhänge der Voralpen hinüber. Die Bewaldung ist zu hoch, das Laub zu dicht für Aus- oder Durchblicke.

BLick auf Lago von den colli im Süden

Nur dort, wo – gewiss um teures Geld – an der via bellavista Grundstücke bebaut werden, stimmt der schöne Aus- und Überblick nach Norden über die Talebene, jedenfalls für die (zukünftigen) Bewohner und Bewohnerinnen dieser Häuser. Blickt man von dieser „Höhenstraße“ nach Süden, sieht man noch weitere Reihen von colli und collini, die wie Meereswellen gegen den Alpenfuß rollen.

colli bei Reseretta

Erst kurz vor der Abfahrt hinunter Richtung Cison, zurück auf die andere Seite der Soligo-Talebene, wird meine Suche nach einem Blick hinüber auf den Alpenfuß erfolgreich – wenigstens eine einzige Lücke im Wald macht die Aussicht möglich: Dort, wo der Einschnitt in der hinteren Bergkette am tiefsten ist, muss er wohl sein, der Passo Praderadego. Im Vordergrund Cison und auf dem sich hereinschiebenden Bergauslauf das castello. Dahinter die Ortschaft Valmareno und das Tal zum Praderadego hinauf.

Blick auf Cison und Valmareno und das Tal zum Praderadego

Da Ermanno in Lago nur Bargeld als Zahlungsmittel akzeptieren will, mache ich mich in Cison auf die Suche nach einer Bank oder einen Geldautomaten. Meine in den letzten Jahren verkümmerte Italienischkompetenz trägt dazu dabei, dass sich dies zu einer dreimaligen Durchquerung des Städtchens auswächst. Diese Suche beschert mir aber auch eine schöne Erinnerung an jenes ausgedehnte Mittagessen am Tisch neben der großen italienischen Familie hier in der noch existierenden trattoria in Cison, im Jahre 2013.

Nach der Geldabhebung geht‘s geschwind um den Schlossberg herum und hinein nach Valmareno und auch sofort durch den Ort hindurch. Die Auffahrt zum Passo Praderadego beginnt.

Passo Praderadego – Südrampenauffahrt

Zu meinem Erstaunen hatte mir Ermanno gar nichts über diese Straße sagen können, er wusste nicht einmal, dass es sie gibt. Aus meinen Vorbereitungsrecherchen konnte ich auch nicht sicher sein, ob dieser alte Weg – zahlreiche Geschichtsquellen führen ihn als Teil der Via Claudia Augusta Altinate – durchgängig befahrbar und asphaltiert sei. Das bleibt auch beim „Antritt“ unten in Valmareno noch ungewiss. Solcherart Ungewissheit über diese historische Alpenquerung bestätigt auch der Artikel auf der amtlichen homepage von Follina, der Nachbargemeinde von Cison:
„La Claudia Augusta Altinate, antica via romana di tipo militare, fu completata per ordine dell’imperatore Claudio nel sec. I d.C. affinchè collegasse Altino, florido porto romano, con Ausburg, la romana Augusta, nel cuore dell’Europa. Da anni gli studiosi più accreditati cercano il suo tracciato originale, esso, tuttavia, rimane ancor oggi un mistero irrisolto.“

Die heutige Fahrstraße deckt sich freilich mit der hypothetischen Trasse der Via Claudia Augusta nur im Bereich der engen Talsohle, also am Bach entlang. Der mit Via Claudia Augusta bezeichnete Wanderweg folgt der vermutlichen Trassierung des römischen Verkehrsweges, meine Radroute hingegen windet sich in zahlreichen Serpentinen und Rampen nach oben.

Kurz nach Valmareno, bei einer überreichlich mit Schildern bestückten Abzweigung, mache ich einen letzten Vorbereitungsstop, Energieriegel inkludiert. Eine Gruppe Motorradfahrer dröhnt noch vorbei und löst einige Befürchtungen in mir aus. Danach ist und bleibt es jedoch still, nur die Grillen zirpen, wie es in dem berühmten Lied so schön heißt, dass sie in der größten Hitze, wenn alle anderen Vögel längst schweigen, dennoch weitersingen, für die Liebe …

Glücklicherweise gibt es nur wenige Stellen in der Auffahrt, an denen der Laubtunnel durchlöchert ist und die Mittagssonne ungehindert herunterbrennt. Und auch an solchen kurzen Straßenabschnitten lassen die Lücken im Wald kaum Aus- oder Rückblicke zu, die einem zeigen könnten, wie weit man schon hinaufgekurbelt ist.

Auffahrt zum Passo PRaderadego – die ersten Kilometer
Laubtunnel im unteren Auffahrtsabschnitt zum Praderadego

Bald taucht das erste Verkehrsschild mit der 10%-Steigungsangabe auf. Ich hoffe, dass die Beschattung noch bleibt und dass auch die nahezu verkehrslose Stille anhält. Auf einigen kurzen, noch steileren Abschnitten fahre ich schon Slalom bergauf, gleichzeitig hochkonzentriert, weil die Asphaltdecke schon sehr löchrig und brüchig ist – stehen bleiben ist weder freiwillig noch unfreiwillig ratsam. Erst bei einer verbreitert ausgebauten, weniger steilen Spitzkehre gestatte ich mir einen Stopp, nach dem das bergauf Anfahren leichter fällt. Ein Blick durch ein paar schüttere Lücken im Laub zeigt Valmareno noch nicht sehr tief unten liegend; das heißt, dass es noch weit und steil hinauf gehen wird.

im Bereich der 10%-Rampen hinauf zum Praderadego

Endlich ist der steile Anstieg bei einer Kuppe (831 m ü.M.) angelangt. Vis a vis steht eine riesige lotrechte Felswand, dazwischen klafft eine Schlucht, der Fahrweg biegt nach rechts und abwärts, überquert in einer Kurve diese Schlucht und setzt sich auf einer aus der Felswand gesprengten Trasse horizontal fort.

Kuppe auf 831m – Blick hinüber zur Trasse in der Felswand
in der Felstraverse

Rechter Hand unter den Überhängen und in kleinen Höhlen warten Marienstatuetten auf neue Kerzen. Dieses Stück Straße ist wie ein Balkon, von dem aus man ins Tal und über die colli schauen und – bei etwas klarerer Luft – wohl auch die pianura erkennen kann.

Blick von der Felstraverse hinaus nach Valmareno und die colli

Klar, dass das nicht die Trasse der Via Claudia Augusta gewesen sein kann – die mühte sich zuerst am Bach bergauf und wich dann – heute als Wanderweg so notiert – auf jenen Berghang aus, der dem gegenüberliegt, auf dem sich die Straße in Spitzkehren heraufwindet. Von hier fehlen aber noch fast 100 Höhenmeter bis zur Passhöhe. Sie werden wieder gut beschattet jetzt auf neu asphaltierter Straße ganz locker geradelt. Rechter Hand taucht die Alpini-Hütte auf und kurz danach ist die Passhöhe erreicht.

Bravo! Bravo!“ tönt es mir von dort oben entgegen: Ein reichlich korpulenter, etwa Ende 30jähriger Mann steht da, ein MTB-fully zwischen seine Beine geklemmt und einen Rucksack am Buckel. „Is it downhill from here?“ fragt er mich. Seine Aussprache klingt nicht wie die eines native speakers. Bald stellt sich heraus, dass er wie ich muttersprachlich im Deutschen zuhause ist. „Ich bin in Stuttgart losgefahren. Nie mehr in meinem Leben, habe ich mir gedacht, werde ich so viel Zeit an einem Stück haben; also fahre ich die Claudia Augusta nach Venedig – auf einen Cappuccino. Das hier ist dann der letzte Pass für mich gewesen – jetzt geht‘s nur mehr bergab bis Venedig“, sagt er. Für mich klingt‘s eher nach einer originell formulierten vorbereiteten Antwort auf die vermutlich schon x-mal gehörte Frage, warum er sich diese (Tor-)Tour antue. Ich hatte ihn gar nicht nach einem „warum?“ gefragt; frage mich selbst auch nicht so, sondern eher mit „wie?“ und antworte mir spürbar mit jeder Kurbelbewegung, die mich weiter bringt. Wortlos. Der Mann aus Stuttgart wartet noch kurz mit dem Überziehen seiner Windbluse, weil ich ihm sage, dass er noch einen kurzen Anstieg am Gegenhang nach der Felstraverse bergauf zu fahren hat. Dann rollt er los, hinunter.

Ich freue mich jetzt auf den in so vielen Berichten empfohlenen Cappuccino im Gasthaus „Ai Faggi“ hier heroben auf der Passhöhe. Daraus wird aber nichts – tutto chiuso. Dann ist noch die Entscheidung treffen, ob ich die Nordabfahrt hinunter und über den San Boldo zurück radeln soll. Der Blick zum Himmel macht die Antwort so wie gestern klar und deutlich: Weste anziehen und direkt zurück talwärts – mit großer Vorfreude auf den Kaffee in Cison. Dazwischen wird‘s jedoch noch ziemlich anstrengend – die Tempokontrolle und die unzähligen Fahrbahnschäden und Asphaltrisse stressen mehr als das Bergfahren vorher. Obwohl mir bei der Auffahrt schon fast keine Autos und nur ein einziger Radler und keine Motorräder begegnet sind oder mich überholt haben, erlaube ich mir keinen Geschwindigkeitsrausch. Im Gegenteil – ein paar Zwischenstopps, um die Hände auszuschütteln und die Schultern zu lockern, werden dringend nötig, bevor ich Cison erreiche. Valmareno war nicht einladend genug.

Cison de Valmarino: Caffé Roma auf der gleichnamigen Piazza

Das Werbebanner unter der Marquise im Caffé Roma hingegen verführt erfolgreich: „Bomba del Ciclista“ – egal woraus das gemixt wird, die Assoziation mit einer energetischen Hochkonzentration ist attraktiv genug.

Danach durften der caffé und eine fritella mit viel Zucker drauf natürlich nicht fehlen. Den prosecco will ich mir für später – dann in der osteria Al Barique in Lago – aufheben. Der Rückweg auf der Hauptstraße in der Talebene wäre wie ein Schock nach der wunderbaren Stille gewesen – viel besser passte es, noch einmal hinüber auf die colli hinauf zu fahren. Die Sonne beginnt auch schon längere Schlagschatten zu werfen und setzt den alten Ortskern von Lago in ein attraktives Licht.

Lago: centro storico – sanfte Sanierung und Modernisierung
Lago: centro storico
Lago: centro storico
Lago: centro storico

Leider ist die osteria neben der Kirche noch geschlossen – den prosecco muss ich beim Chinesen im Schanigarten nehmen und mich sogar noch beeilen: die schon oben am Passo Praderadego am Himmel sich abzeichnende Wolkenkumulierung wird plötzlich sehr bedrohlich. Der Wetterwind lässt auch keine Zweifel mehr an seiner Absicht. Mit ihm im Rücken komme ich gerade noch trocken in mein Basiscamp „La Palanca“. Dann wird‘s finster. Nur Blitze erleuchten schlaglichtartig das Tal, durch das der Sturm die Regenschwaden peitscht. Nach einer halben Stunde etwa geht das Schauspiel in sein Finale:

Lago: nach dem Gewitterregen
Lago: nach dem Gewitterregen – Blick auf die colli vis a vis

Statistik: Lago – colli – Cison – Passo Praderadego – Cison – colli – Lago
43 km, 1.555 Höhenmeter bergauf, 2 Stunden 56 Minuten Nettofahrzeit.

strada dei 100 giorni

Tag 2: Donnerstag, 11. Juli 2019

Geplant war, von Lago zuerst auf den Passo San Boldo und hinunter nach Trichiana ins Piavetal und von dort die Nordauffahrt zum Passo Praderadego hinauf und zurück über Valmareno und Cison wieder nach Lago zu fahren.

ursprünglich geplante Runde

Aus dem Plan wurde aber nichts. Das Wetter hatte am Passo San Boldo überzeugend gedroht. Und ein wenig Reisemüdigkeit vom gestrigen Tag hat auch etwas nachgeholfen …

Lago – Passo San Boldo – Lago

Der „giro d‘Italia“ führte heuer am 31. Mai seine 19. Etappe über den San Boldo – Ermanno hat mir gesagt, dass der Tourismusverband der Prosecco-Region Unsummen dem giro-Veranstalter dafür gezahlt hatte. In Tovena, am Hauptplatz, bezeugt eine stilisierte Radfahrerfigur noch Monate nach der Durchfahrt dieses Ereignis. Aber nicht nur dort sind Rosa-Reste, wie noch zu sehen sein wird.

Tovena: Werbereste vom giro d’Italia 2019

Ich hätte zwar gerne zugeschaut, wie die Rennradler da „hinaufgeflogen“ sind, doch ist das nicht das vorrangige Interesse, das ich in den letzten Jahren für diese Straße entwickelt hatte. Waren die Bilder, die in Büchern und im internet nahezu unendlich oft zu bestaunen sind, schon beeindruckend genug, so sind es das Hinaufradeln, die Blicke auf die Tunnelkehren und auch das Lesen der Entstehungsgeschichte am Ort selbst noch viel mehr.

Blick hinaus nach Tovena
vor dem „Talschluss“ die Mauer

Vom gesamten Höhenunterschied zwischen Tovena/Hauptplatz (ca. 260 m) und der Passhöhe (706 m) werden auf den ersten 5 km rund 360 Höhenmeter auf Rampen und einem Dutzend Spitzkehren bis zum Beginn der engen Schlucht San Uboldo ohne Anstrengung hinaufgeradelt. Bis zur elften Kehre (von unten gezählt) steigt das Rätselraten darüber, wie es denn bei der allmählich näher kommenden Felswand überhaupt weitergehen könne. Dann wird plötzlich der Blick frei auf die in die Schlucht hineingezwängten Rampen und Eingangsportale der Kehrentunnel.

In manchen Kehren sind Hinweistafeln mit Fotos und Erklärungen zur Baugeschichte dieses letzten Straßenstückes der „strada dei cento giorni“ – so genannt, weil es in 100 Tagen errichtet wurde. Eine ausführliche Darstellung verfasste der 1918 für den Bau verantwortliche Kommandant der Bautruppe Nikolaus Waldmann im Jahre 1933 in den „Militärwissenschaftlichen Mitteilungen“.

die untersten Kehrentunnelportale

Im ersten Bild sieht man unten die Ein- bzw. Ausfahrt – vom Tal kommend linksseitig – zum ersten Kehrentunnel, tornante nr. 6, weil die Nummerierung oben am Pass beginnt. In der unten wiedergegebenen „Skizze 3 – Grundriß der Schlucht von S. Ubaldo“ des Bauleiters Nikolaus Waldmann ist das der Kehrentunnel Nr. I. Die im Foto ersichtliche Einfahrt zur tornante nr. 4 ist in der Skizze der Kehrentunnel Nr. III. Links im Vordergrund des Fotos erkennt man die obere Ausfahrt der tornante nr.5, das ist der Kehrentunnel Nr. II auf der rechten Seite der Schlucht.

aus dem Bericht von Nikolaus Waldmann, dem Bauleiter
San Boldo – eine der Bildtafeln zur Geschichte der Straße

Die Ein- und Ausfahrt zum Kehrentunnel Nr. IV der Skizze 3 sieht man auf dem nächsten Foto: die beiden obersten Tunnelportale gehören zu der heute als tornante nr. 2 bezeichneten Kehre.

San Boldo Portale der Kehrentunnel

Zu erkennen ist auch die Ampelregelung. Sicherheitshalber habe ich beim Hinauffahren immer eine Gegenrichtungsphase auf der jeweiligen Rampe im Freien abgewartet und nach oben geschaut, ob kein Auto gerade herunterfährt. Eine Begegnung in irgendeiner der engen, einspurigen Tunnelkurven war mir eine beängstigende Vorstellung. Es kam glücklicherweise nie dazu, auch nicht im letzten Tunnel der Auffahrt, dem langen Kehrentunnel Nr. V in der Skizze.

die obersten Kehren
die Passhöhe San Boldo mit Giro-Schmuck

Oben fahre ich natürlich nicht den „Durchstich“, sondern die schmale steile Rampe zur ehemals „natürlichen“ Passhöhe hinauf, vorbei an der osteria „La Muda“ – sie war eh nicht geöffnet – und hinüber zur alten, kleinen Bergkapelle. Sie hatte gewiss ziemlich leiden müssen unter dem giro d‘Italia-Lärm Ende Mai 2019.

Foto Fabio Ferrari / LaPresse 31 Maggio 2019 Treviso (Italia) Sport Ciclismo Giro d’Italia 2019 – edizione 102- tappa 19 – Da Treviso A San Martino Di Castrozza – km 151 Nella foto:durante la gara. Photo Fabio Ferrari / LaPresse May 31, 2019 Treviso (Italy) Sport Cycling Giro d’Italia 2019 – 102th edition – stage 19 From Treviso To San Martino Di Castrozza In the pic: during the race.

Heute ist es still, in und um die chiesetta alpina herum. Ein altes Ehepaar setzt bedächtig Schritt vor Schritt von der Brücke über den Durchstich kommend. Sie nehmen sich Zeit für eine Andacht in der Kapelle. Ich studiere noch den Himmel und die Wolken und entscheide mich gegen die geplante Runde und für die direkte Rückkehr nach Lago.

Passo San Boldo: chiesetta alpina

Statistik: Lago – Passo San Boldo – Lago
19 km, 451 Höhenmeter bergauf, 1 Stunde 14 Minuten Nettofahrzeit.

Anfahrt

Tag 1: Mittwoch, 10. Juli 2019

Wie im Fahrplan geschrieben fährt er in Pordenone ein, der Österreichische Bundesbahnzug von Wien nach Venezia Santa Lucia. Vor dem Bahnhofsgebäude steht die heiße Mittagsluft. Auch sonst bewegt sich wenig. Der Kontrast zu meiner Pordenone Erinnerung an die Durchfahrt mit dem „desperate bicycle“ im April 2013 könnte kaum größer sein. Jetzt geht oder fährt nur, wer muss. Ich will – und zwar so subito wie möglich – auf der piazza del popolo in Sacile Kaffee trinken.

Pordenone – Sacile – Vittorio Veneto – Lago

Die Ausfahrt aus dem Stadtzentrum von Pordenone gelingt ohne Verirrungen. Das Navi spinnt nicht. Sehr bald bin ich auf der Hauptstraße, wechsle aber nicht – wie damals mit dem Tourenrad – auf den baulich von der Fahrbahn getrennten Radweg. Der hat zu viele Asphaltrisse, Löcher, Splitt, Glasscherben und sonstige lästige Pannenverursacher. Ich vertraue darauf, dass in Italien Menschen auf einem Rennrad auch von den motorisierten Straßennutzern respektiert werden – für Tourenfahrer mit Packtaschen kann ich das definitiv nicht sagen.

Sacile, Piazza del Popolo

Bald ist die Straßengabelung bei der Einfahrt in die Altstadt von Sacile erreicht, die piazza del popolo noch menschenleer. Unter den großen Sonnenschirmen des Café Commercio kann ich mir den genehmsten Schattenplatz wählen.

Nach einem nostalgischen Gruß an Sepp in Wien, der mir vor vielen Jahren einen Besuch von Sacile empfohlen hatte, den ich dann 2013 realisiert hatte, rolle ich langsam aus dem Städtchen hinaus – auch dieses mal ohne die nahe gelegene Klavierfabrik „Fazzoli“ zu besuchen.

Der südliche Rand der Alpen, insbesondere jene enge Kluft, durch die sich der Meschio aus den Bergen herauszwängt, wird rasch konturierter in dem sommerlich flirrenden Dunstbild. Ob an der berühmten Piazza Marc Antonio Flaminio in Serravalle/Vittorio Veneto etwas verändert wurde?

Serravalle/Vittorio Veneto: Piazza Marcantonio Flaminio (2013)

An Kuriositäten sind die den Platz bildenden palazzi und sonstigen Bauwerke gewiss nicht arm. Die Neugier wäre zwar groß, doch die Zeit dafür ist mir zu kurz. Daran ändert auch der Text auf dem Banner, das in den „Arco Austriaco“ gespannt ist, nichts:

Was brauchen sie noch
außer Liebe,
Aufmerksamkeit und
Ruhe, Ruhe, Ruhe, Ruhe,
Ruhe … ?

Serravalle/Vittorio Veneto: Arco Austriaco auf der Piazza Flaminio

Der plumpe „Österreicherbogen“ kontrastiert die filigranen, fast verspielten Fassaden der anderen palazzi. Ob die Textbotschaft in dem Bogen auf den Herrschaftsgestus der Habsburger anspielt? Die gebäudelose vierte Seite des Platzes wird vom in steinerne Kanäle gebändigten Fluss Meschio gebildet. Doch was hat dort der schief geneigte Sockel zu bedeuten, von dem irgendwann vielleicht eine Skulptur gestürzt ist? Oder ist er ein versinkender Rest eines anderen Torpfeilers? Und was will der daneben sich senkrecht in den Himmel bohrende Mast mitteilen, auf dem eine Erdkugel (?) aufgespießt ist, auf dem ein geflügelter, golden glitzernder Löwe balanziert – etwa „schöne“ Grüße von der Serenissima?

Serravalle/Vittorio Veneto: Piazza Flaminio

Die Auffahrt zur strada del prosecco nach der Nordausfahrt von Serravalle/Vittorio habe ich noch von damals gut in Erinnerung – mäßig steile, aber lange und breite, schattenlose, zäh am Vorausblick ziehende Straße unter der hohen Autobahnbrücke hindurch bis hinauf nach Revine Lago – also: das letzte Weckerl mit Käse, die letzte Banane müssen vorher gegessen werden; Jause am doppelt kanalisierten Meschio, im Schatten.

Serravalle/Vittorio Veneto: am Fiume Meschio

Nach Revine Lago geht‘s in sanften Wellen leicht bergab, durch Santa Maria hinein nach Lago – am Ende der Ortsdurchfahrt finde ich mein Quartier, mein Basiscamp für die nächsten drei Tage: La Palanca, wo mich Ermanno, der Hausherr, sehr freundlich empfängt.

In der von Ermanno empfohlenen osteria Al Barique am Kirchplatz bleibt mir die Stunde der Wahrheit meiner geschrumpften Italienischkenntnisse nicht erspart: Das Bier-Bestellen geht ja gerade noch, beim Essen spiele ich auf volles Risiko – es gibt keine Speisenkarte, sondern eine gar nicht auf Hochitalienisch sich zu präsentieren versuchende Wirtin. Von ihrem Angebot bringe ich nur einen winzigen Bruchteil mit meinem kaum mehr abrufbarem Sprachwissen zur Deckung. Aber was sie letztlich auftischt, war köstlich. Zum Schluss lerne ich den lokalen Wein – prosecco frizzante natürlich – noch richtig lieben. Zurück in LaPalanca wartet Ermanno noch auf mich – sichtlich in Vorfreude, mit mir noch ein wenig Plaudern zu wollen. Als Gesprächsthema bietet sich fast zwingend die Geschichte der Straße auf den Ubaldopass/San Boldo an. Die steht ja morgen auf meinem Programm.

Statistik: Pordenone – Sacile – Serravalle/Vittorio Veneto – Lago:
40,3 km, 275 Höhenmeter bergauf, 1 Stunde 58 Minuten Nettofahrzeit.

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